Die Ausreizung des Sprechstundenbedarfs ist kein Kavaliersdelikt. Wollen Apotheken das Risiko für Retaxationen senken, müssen sie mit anpacken. Der AOK-Bundesverband hat eine neue Weiterbildung ins Leben gerufen, die für Recht und Ordnung in den Praxen sorgt und Apothekenteams große Verantwortung überträgt.
Dr. Klaus Marsmann muss mal wieder los. Gemeinsam mit seinen PTA Helga Schröder und Bärbel Kessler steigt er in das knallrote Botenfahrzeug seiner Apotheke in Eckernförde – ein Fiat Panda, der in einschlägigen Kreisen der Region längst berüchtigt ist. Das Trio mag vielleicht unscheinbar, ja beinahe normal wirken – aber der Schein trügt: Marsmann, Schröder und Kessler sind keine einfachen Apothekenmitarbeitenden, sondern zertifizierte Hilfsmittel-Mess- und Protokoll-Fachkräfte (HMPF) des AOK-Bundesverbands. Nach einem knallharten 40-Stunden-Wochenendseminar sind sie der verlängerte Arm der Primärkasse – dazu da, die Sprechstundenbedarfsabrechnung in Arztpraxen bis ins Detail zu optimieren.
Ihr heutiges Ziel ist eine kleine Allgemeinarztpraxis am Rande des etwa 15 Kilometer entfernten Süderbrarups. Als das Dreiergespann ankommt, öffnet sich die Praxistür, und ein sichtlich nervöses Team erwartet sie. Marsmann stellt sich kurz angebunden vor und betont mit ruhiger, bestimmter Stimme: „Bei Ihnen steht heute die exakte Vermessung der zu desinfizierenden Flächen an. Wir prüfen die Alkoholtupfer auf Einhaltung der Fünf-Personen-Regel, kontrollieren die Handschuhvergabe nach AOK-Vorgaben und dokumentieren die ambulanten Eingriffe – inklusive Patientennamen und Chargennummern. Außerdem gilt ab zwei Behandlungsräumen: keine Einzelflaschen mehr, sondern Defekturpflicht. Keine Fragen, Zeit ist Geld, wir starten direkt.“
Ehe sich die Praxisangestellten versehen, rollt Schröder routiniert das AOK-gebrandete Maßband aus, während Kessler wie ein Valenzelektron in der Außenschale umherschwirrt und fleißig in ihre Kladde hineinnotiert. Das Praxisteam wirkt sichtlich überfordert, flüstert untereinander und wirft dem Apothekenteam fragende Blicke zu, während die Patientenschlange am Empfang immer länger wird. Marsmann bemerkt das, hebt leicht die Augenbrauen und sagt: „Keine Sorge, das ist für uns Routine, wir wissen, was wir tun. Weitermachen!“
Als dem Apotheker dann eine unangerührte Packung Alkoholtupfer ins Auge fällt, wird er ungehalten: „Moment mal! Die Tupfer bekommen Sie genau nach Ihrem tatsächlichen Verbrauch zugeteilt. Sagen Sie meiner Kollegin bitte, wie viele Sie pro Monat brauchen.“ Eine Arzthelferin eilt mit panischem Blick zu Schröder, die schon Notizen macht. Marsmann schüttelt mit Unverständnis den Kopf: „Jeder Tupfer wird einzeln ausgepackt, aufgefaltet und direkt verwendet. Und ganz wichtig: Die Fünf-Personen-Regel gilt – ein Tupfer wird erst eingesetzt, wenn mindestens fünf Patienten ihn während einer Sprechstunde auch benutzen können.“
Er zeigt auf die Handschuhe und fährt fort: „Ein paar Handschuhe wird in einer klaren Rangfolge vergeben: Erst an den Praxisinhaber, dann an die weiteren Ärzte, dann an die Sprechstundenhilfe und schließlich an die Reinemachfrauen. Dabei muss genau dokumentiert werden, wer seine Handschuhe für welche Tätigkeit wie lange verwendet hat.“ Er zwinkert: „Dass sie die Größe auch angeben müssen, haben Sie sich sicher schon fast gedacht, was?“
Im Hintergrund misst sich PTA Schröder die Seele aus dem Leib: „Die potenziell zu desinfizierende Flächen werden millilitergenau von unserer Expertin vermessen“, kommentiert Marsmann. „Ab zwei Behandlungsräumen ist die Bestellung von Einzelflaschen nicht mehr erlaubt, dann gilt die Defekturpflicht. Wir bringen die offiziellen Tabellen mit Grenzwerten mit, damit Sie immer wissen, wo Sie stehen.“ Schröder wirft ihrem Chef einen eindeutigen Blick zu, der zieht daraufhin scharf Luft durch seine Zähne ein: „Sie haben da leider eine Abweichung von 3,683 Millimetern, da kommen Umbauarbeiten auf sie zu, das kann teuer werden!“
Der Apotheker macht eine kurze Pause und ergänzt: „Auf den Rezepten muss außerdem zwingend der Schulungsnummernachweis sowie die genaue Fläche der Räume in Quadratmetern stehen. Bei ambulanten Operationen ist der Bedarf exakt nachzuweisen – mit Patientenname, Operationszeitpunkt und Dauer, Vorher-Nachher-Fotos, einer Kopie des Personalausweises des Patienten und Chargennummer der verwendeten Augentropfen. Das nur Pipettenflaschen mit 7,5 Millilitern abzugeben sind, versteht sich hoffentlich von selbst.“
Das Praxisteam nickt verunsichert, während Schröder und Kessler fleißig mitschreiben und vermessen. Marsmann schließt mit: „Lückenlose Dokumentation ist hier das Zauberwort. Nur so ist unsere Abrechnung sicher – und schützt uns vor Retaxationen.“ Er winkt seine Kolleginnen zu sich und verabschiedet sich vom sichtlich geschafften Praxisteam mit den Worten: „Wir sind hier fertig, Sie bekommen in drei Monaten Post.“
Nach getaner Arbeit steigen die drei wieder in den knallroten Fiat Panda und kleben routiniert einen weiteren Sammelsticker in ihr offizielles Prämienheft des AOK-Bundesverbands. Denn sie sind gut. So gut, dass sie nach zehn erfolgreich abgeschlossenen Begehungen eine Kaffeetasse verdient hatten – weiß, mit grünem Aufdruck: „Wir HERZ AOK“ Ein derartiger Ansporn, dass sie in Rekordzeit die 25 knackten und jetzt einen 350-Milliliter-Thermobecher mit dem Aufdruck „Einatmen. Ausatmen. Vermessen. AOK.“ ihr Eigen nennen dürfen. Der wird auf jeder Fahrt natürlich wie ein Klingelbeutel herumgereicht, mit einem selbsteingetragenen Eichstrich für jeden, damit es gerecht zugeht.
Aktuell steuern sie die magische 40 an. Dann winkt ein exklusiver AOK-Autosticker in limitierter Auflage. Darauf zu lesen – dezent, aber unmissverständlich: „Maßband an Board“. Marsmann hat auf dem Panda längst einen Platz auserkoren und freigemessen.
Tatsächlich dürfen Apotheken in Niedersachsen ab dem 11. Februar 2026 wegen fehlender Verträge keinen Sprechstundenbedarf mehr an Arztpraxen liefern, da die Krankenkassen keine neuen Vereinbarungen mit angemessenen Konditionen treffen. Übrigens: Für den PTA-Beruf gibt es 2024 offiziell keinen Engpass mehr, da die Zahl der Beschäftigten leicht gestiegen ist. Trotzdem bleiben viele Stellen länger unbesetzt. Bei Apotheker:innen gibt es weiterhin Engpässe, besonders in Niedersachsen/Bremen.
Inhaberin Martina Reh kann seit über drei Wochen keine E-Rezepte annehmen, weil ihre SMC-B-Karte abgelaufen ist und die Ersatzkarte verspätet freigeschaltet wurde. Sie trägt den finanziellen Verlust allein und kritisiert mangelhafte Unterstützung und langsame Abläufe. Beate Frimmel schließt ihre Salzach-Apotheke Ende Juni, weil das finanzielle Risiko durch lange Vertragslaufzeiten und hohe Softwarekosten zu groß ist. Lieferengpässe und steigender Dokumentationsaufwand machen die Arbeit unattraktiv, während die Vergütung für die erbrachten Leistungen nicht ausreicht, sagt sie.
In diesem Sinne: Schönes Wochenende!
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