Das Epstein-Barr-Virus (EBV) beeinflusst gezielt das Immunsystem. Forschende aus Heidelberg und Lyon konnten aufzeigen, wie es B-Zellen umlenkt, die dann Entzündungen auslösen oder Tumore fördern. Damit könnte das Virus eine zentrale Rolle bei der Entstehung beider Krankheiten spielen.
Die meisten Menschen tragen es in sich, doch kaum jemand merkt etwas davon: das Epstein-Barr-Virus (EBV). In Deutschland sind mehr als 95 Prozent der über 50-Jährigen infiziert. Meist verläuft die Infektion still. In bestimmten Fällen kann das Virus schwere Erkrankungen begünstigen – etwa das Burkitt-Lymphom oder Magenkrebs. Auch bei Autoimmunerkrankungen wie Multipler Sklerose (MS) rückt EBV zunehmend in den Fokus.
Forschende des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) und des Nierenzentrums der Universitätsklinik Heidelberg haben nun einen Mechanismus entdeckt, mit dem sich EBV im Körper aktiv verbreitet: Es verändert B-Zellen so, dass sie sich stärker bewegen, Barrieren überwinden und gezielt ins Gewebe wandern – auch ins Gehirn. Möglich wird das durch eine Kombination aus erhöhter Beweglichkeit, veränderter Signalverarbeitung in der Zelle und der Anziehung weiterer Immunzellen. Auffällig: Die infizierten B-Zellen produzieren selbst die Botenstoffe, die ihre Mobilität steuern.
Dass EBV zur Krebsentstehung beitragen kann, ist bekannt. Die aktuelle Studie zeigt nun, dass infizierte B-Zellen Eigenschaften entwickeln, wie sie normalerweise bei Zellen vorkommen, die gezielt in Gewebe einwandern – sogenannte Homing-Zellen. Ausgelöst wird das durch Virusbestandteile, die bestimmte Entzündungsbotenstoffe aktivieren. Einer davon, CCL4, wirkt wie ein Lockruf und verstärkt die Beweglichkeit der Zellen. Gleichzeitig macht er sie empfänglich für Signale über den Rezeptor CCR1, der bei MS besonders aktiv ist. Das Zusammenspiel dieser Reize versetzt die B-Zellen in eine Art Wanderzustand.
„In Kooperation mit dem Nierenzentrum des Universitätsklinikum Heidelberg konnten wir zeigen, dass EBV-infizierte B-Zellen Charakteristika von Homing cells aufweisen“, erklärt der DKFZ-Virologe Professor Dr. Henri-Jacques Delecluse, ein international anerkannter Experte für das Virus. Diese Zellen überwinden gezielt die Barriere der Blutgefäße und dringen in verschiedene Gewebe vor – ausgelöst durch die Wechselwirkung von CCL4 und CCR1. Im Inneren der Zellen wird dabei ein Enzym namens FAK2 aktiviert, das die Bewegung zusätzlich antreibt.
Zudem setzen die infizierten Zellen Interleukin-10 frei, das weitere Immunzellen anlockt – vor allem solche, die auch im entzündeten Hirngewebe von MS-Patienten verstärkt vorkommen.
Im sogenannten Mausmodell gelang es dem Forschungsteam, diesen Prozess zu unterbrechen: Der Wirkstoff Defactinib hemmte gezielt das Enzym FAK2, wodurch die infizierten B-Zellen ihre Beweglichkeit und Überlebensfähigkeit verloren. Die Ausbreitung in Milz und Gehirn wurde gestoppt. Besonders wirksam war die Kombination mit einem CCR1-Hemmer. Defactinib ist bereits in klinischer Erprobung und gilt als gut verträglich.
„Die Entschlüsselung der Reaktionskaskade, die EBV-infizierte B-Zellen in den Homing-Modus versetzt, bietet die Möglichkeit, gezielt zu intervenieren und die Migration der B-Zellen zu unterbinden“, erklärt Erstautorin Dr. Susanne Delecluse, Nephrologin und Forschungsgruppenleiterin am DKFZ. „Durch spezifische Hemmstoffe konnten wir die Überlebenschance EBV-infizierter B-Zellen reduzieren und ihre Ausbreitung im Körper – unter anderem ins Gehirn – verhindern.“
Ob sich diese Ergebnisse auf den Menschen übertragen lassen, ist noch offen. Die Autorinnen und Autoren schreiben: „Unsere Ergebnisse liefern mechanistische Einblicke in die durch EBV verursachte Fehlsteuerung von B-Zellen und deuten darauf hin, dass die Eindämmung ihrer Migration ein möglicher Ansatz sein könnte, um die krankmachende Wirkung EBV-infizierter Zellen zu verringern.“ Sollte sich der Mechanismus bestätigen, könnte er helfen, gezielt gegen die Rolle des Virus bei Autoimmunerkrankungen wie MS vorzugehen – und möglicherweise auch vor langfristigen Folgeschäden zu schützen.
Die Studie trägt den Titel „Epstein–Barr virus induces aberrant B cell migration and diapedesis via FAK-dependent chemotaxis pathways“ und wurde in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht. Neben den deutschen Institutionen waren auch Forschungseinrichtungen in Lyon beteiligt, darunter die Université Claude Bernard Lyon 1 und Inserm.
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