ApoRetrO – der satirische Wochenrückblick

Ab 1. Juli: Startschuss für die Hilfsmittel-Hunger-Games

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Berlin -

Am Dienstag startet das spektakulärste Event des Jahres: die Hilfsmittel-Hunger-Games! Millionen von Versicherten der IKK classic werden zu unfreiwilligen Teilnehmer:innen in einem gnadenlosen Wettkampf – mit dem Ziel, überhaupt noch an Milchpumpen, Inhalatoren oder Insulinpens zu kommen. Die Regeln sind simpel wie gnadenlos: Nur Apotheken mit einem Einzelvertrag der Kasse dürfen versorgen, alle anderen stehen draußen und müssen zusehen, wie der Patient:innen-Zirkus an ihnen vorbeizieht. Wer Pech hat, rennt von Apotheke zu Apotheke, als gäbe es bei der nächsten die letzte Chance – Möge der Hartnäckigste gewinnen!

Mit zitternder Hand umklammert Klaus-Wilhelm Rübenberg seine Tasse Morgenkaffee, als ihm das Schreiben seiner Krankenkasse aus den Fingern gleitet. Es ist die fettgedruckte Betreffzeile, die ihm den Boden unter den Füßen wegzieht: „Herzlichen Glückwunsch, Sie wurden auserwählt, sich selbst zu helfen!“ Auserwählt – das klingt wie eine Auslosung im Endzeit-Szenario, ein Wettkampf ohne Regeln oder eine Pflichtveranstaltung für Verlierer. Nur dass es hier nicht um Geld geht, sondern ums nackte Überleben. Rübenberg weiß: Er ist nicht der Einzige, der heute Post von der Krankenkasse bekommen hat.

Ab dem 1. Juli – das liest er mit diesem leicht metallischen Geschmack von Angst, Blei und Instantkaffee auf der Zunge – dürfen nur noch Apotheken mit Einzelvertrag Versicherte der IKK classic mit Hilfsmitteln versorgen – und seine Stammapotheke gehört nicht dazu, dabei braucht gerade er als COPD-Patient dringend einen neuen Vernebler. Die PTA, die ihn stets freundlich und kompetent berät, hat ihn zwar unter der Hand gewarnt, dass da „irgendwas“ auf ihn zukomme, doch jetzt hat er es schwarz auf weiß.

Rübenberg sieht seine Felle davonschwimmen – genauer gesagt: seine Inhalatoren und Insulinpens treiben auf einem Floß aus Paragrafen in Richtung Gesundheitswüste. Zustände wie im Wilden Westen kündigen sich an: Versorgung nach Vertrag, nicht nach Bedarf; jeder für sich, der Schnellste und Stärkste zuerst. Vor seinem inneren Auge flimmert ein Werbespot aus der drohenden Apokalypse: nächtliche Streifzüge durch die Vorstadthölle, auf der Suche nach den letzten Hilfsmittel-Restbeständen. Mütter, die in zwielichtigen Hinterzimmern Milchpumpen auftreiben, Menschen mit chronischen Wunden, die in hitzigen Tauschgeschäften auf schummerigen Parkplätzen zwei Schachteln Tavor gegen ein halbes Duschpflaster eintauschen und nächtliche Poker-Runden in verrauchten Kneipen um Inkontinenzvorlagen der Größe M zu erspielen.

Bisher hat nur seine Krankenkasse die bundesweit geltenden Verträge aufgekündigt, doch er ahnt Schlimmes. Auf der Rückseite seines Schreibens steht eine Liste der Apotheken, die einen gültigen Einzelvertrag mit seiner Kasse haben. Die nächste ist in Mecklenburg-Vorpommern, in Kröppelshagen. Eine Tagesreise entfernt, wohl nur mit Maultier oder per Anhalter zu erreichen – denn dorthin fährt keine Bahn, und die Straßen sind schotterig. Rübenberg schluckt trocken. Der Sommer wird heiß – und unversorgt.

Er faltet den Brief sorgfältig zusammen und beginnt, seinen Rucksack zu packen – Taschenlampe, Müsliriegel, Kühlakkus, Patientenverfügung. Man weiß ja nie. In eine Seitentasche steckt er sicherheitshalber noch ein altes Salbutamol-Spray. Wahrscheinlich muss er nicht nur Oma Erna mit ihren Krücken Richtung Versorgung überholen, sondern auch Onkel August, der seinem Rollstuhl die Sporen gibt, damit er am Ende des Tages als Gewinner – oder einfach ausgedrückt: als Hilfsmittelbelieferter – hervorgeht. Seiner Frau Rita wird er davon nichts erzählen – sie hat mit ihren Engpasspräparaten schon genug Sorgen.

Zur gleichen Zeit lebt Dr. Vera Stillmann in Angst. Im beschaulichen Kröppelshagen versorgt sie knapp 500 Einwohnerinnen und Einwohner mit ihrer Apotheke im Einklang – und ist die einzige im Umkreis von 50 Kilometern mit einem exklusiven Hilfsmittel-Einzelvertrag der IKK classic. Seit der Vertragskündigung schläft sie schlecht, ihr Diensttelefon trägt sie vorsorglich wie einen Revolver im Western in einem Holster an der Hose. Ab kommendem Dienstag wird ihre Apotheke zur Bühne einer gesundheitspolitischen Reality-Show. Doch nicht jeder will das: Andere Inhaberinnen und Inhaber leisten erbitterten Widerstand. Sie lehnen die Einzelverträge kategorisch ab – und versorgen nur noch unter der Hand, wenn überhaupt.

Mitten im Durcheinander agiert die IKK classic als Spielmacher, der ständig neue Regeln aufstellt. Die Vertragskonditionen wechseln schneller als die Trends auf Fashion Weeks, Apotheken kommen und gehen wie Boxer in einem kurzfristigen Kampf. Wer heute an Bord ist, kann morgen schon ausscheiden. Ein permanentes Glücksspiel, bei dem keiner die nächste Runde vorhersehen kann – doch alle sind verpflichtet mitzumachen. Zwischendurch werden immerhin per Fallschirm kleine Hilfspakete in Apotheken abgeworfen. Klein meint hier einzelne Inkontinenzvorlagen oder Inhalatorteile, um die Laune hochzuhalten – und auch nur für besonders treue Kunden, die schon viel Geld gebracht haben.

Tatsächlich informierte die IKK classic ihre rund drei Millionen Versicherten, dass ab 1. Juli Hilfsmittel nur noch von Apotheken mit Einzelvertrag versorgt werden. Da viele Apotheken diese Verträge ablehnen, sollen Patient:innen sich selbst einen neuen Versorger suchen. Auch neu ab Juli ist Ozempic als 8-Wochen-Pen mit acht Dosen. Der 0,5-mg-Pen wurde ebenfalls verlängert. Anwendung und Preis pro Dosis bleiben aber gleich. Übrigens: Etwas früher, ab dem 28. Juni, müssen Apotheken-Websites barrierefrei sein. Das verdoppelt bei Apotheken.de die Kosten von rund 50 auf fast 98 Euro monatlich. Bei Verstößen drohen hohe Bußgelder.

Außerdem hat das Verwaltungsgericht Düsseldorf in dieser Woche entschieden, dass die Apothekerkammer Nordrhein (AKNR) zu hohe Rücklagen abbauen und Beiträge an Mitglieder zurückzahlen muss. Die Kammer halte Millionen, die nicht gerechtfertigt seien. Derweil enthält der vom Bundeskabinett vorgelegte Haushaltsentwurf keine direkten Mittel für Apotheken. Pharmazeutische Dienstleistungen und Notdienste werden nur geringfügig berücksichtigt. Der Fokus liegt auf Investitionen und der Stabilisierung der GKV.

In diesem Sinne: Ein sonniges Wochenende.

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