Kommentar

Das Primärarztsystem braucht Apotheken

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Berlin -

Im Koalitionsvertrag versprochen und auf dem Ärztetag heiß diskutiert: das Primärarztsystem. Die Idee ist einfach: Statt dass Versicherte sich direkt an Fachärztinnen und Fachärzte wenden, sollen Hausärztinnen und Hausärzte die ersten Ansprechpartner sein – jedenfalls im Idealfall. Dadurch sollen Doppeluntersuchungen und unnötige Facharztbesuche vermieden und damit die Wartezeiten für Versicherte reduziert werden. Das Problem: Es gibt gar nicht genug Hausärztinnen und Hausärzte, um alle Versicherten zu betreuen. Wünschenswert wäre eine zusätzliche niedrigschwellige Struktur mit entsprechender Expertise, die unterstützend einspringen könnte. Ein Kommentar von Lilith Teusch.

Einen Facharzttermin zu bekommen, ist für die meisten Versicherten ein Albtraum: keine Kapazitäten, volle Wartezimmer und teils monatelange Wartezeiten. Das führt zu großer Unzufriedenheit, wie auch verschiedene Umfragen zeigen. Die Regierung möchte dem mit einer besseren Steuerung der Patientinnen und Patienten entgegenwirken, um unnötige Kontakte zu vermeiden und diejenigen, die wirklich behandelt werden müssen, schnell an die richtige Stelle zu bringen. Denn Doppelkontakte kosten Geld – ebenso wie verschleppte Krankheiten.

Dass mehr Effizienz nötig ist, da sind sich überraschenderweise sowohl Krankenkassen als auch Ärztinnen und Ärzte und die Politik einig. Bei der genauen Ausgestaltung gibt es allerdings noch Debatten. Im Grunde soll ein Primärarztsystem entstehen, bei dem vor allem Haus- und Kinderärztinnen und -ärzte die Behandlung und Koordination für die Patientinnen und Patienten übernehmen. Ohne Budgetierung sollen Anreize entstehen, diese neuen Aufgaben zu übernehmen.

In einer perfekten Welt hätte jede Bürgerin und jeder Bürger einen Hausarzt mit ausreichend Kapazitäten als erste Anlaufstelle. Doch wir leben nicht in einer perfekten Welt: Immer mehr Hausarztstellen sind unbesetzt, und durch den demografischen Wandel wird die Situation in Zukunft eher schlimmer als besser. Bereits 2021 warnte die Robert Bosch Stiftung, dass bis 2035 in Deutschland rund 11.000 Hausarztstellen unbesetzt sein werden. Viele Hausarztpraxen sind jetzt schon stark belastet und nehmen keine neuen Patientinnen und Patienten mehr auf. Gerade abseits der Metropolen kann die Suche nach einem Arzt zu einer Dauerbelastung werden.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat in ihrem Positionspapier unter anderem eine Idee vorgestellt, wie man diesen Problem etwas abfedern könnte: Ergänzend zum Primärarztmodell soll die Rufnummer und digitale Plattform 116 117 eine Möglichkeit zur gesteuerten Versorgung bieten. Versicherte, die keinen steuernden Vertragsarzt gewählt haben, sollen hier Termine vermitteln lassen und fachärztlich zugewiesen werden können. Die Plattform soll zudem für strukturierte Ersteinschätzungen eingesetzt werden. So ähnlich soll es auch in Niedersachsen laufen – Partner der KV ist hier ausgerechnet die DocMorris-Tochter Teleclinic.

Was in der Primärarztdebatte bisher nicht auftaucht, ist eine Ressource, die längst bereitsteht: die Apotheken. Dabei sind sie mit ihrem pharmazeutisch geschulten Personal und ihrer flächendeckenden Präsenz ideal, um Hausärzte spürbar zu entlasten. Denn viele Menschen wenden sich bei einfachen Beschwerden, Fragen zu Medikamenten oder leichten gesundheitlichen Problemen sowieso zuerst an die Apotheke – oft schneller und unkomplizierter als an den Arzt. Man braucht nicht einmal einen Termin.

Apotheken könnten deutlich mehr leisten: Impfungen, Präventionsangebote, Ersteinschätzungen – all das findet bereits statt und könnte systematisch ausgebaut werden. So ließe sich die Versorgung besser steuern, die Wartezimmer in den Praxen würden entlastet. Statt jede Kleinigkeit zum Arzt zu tragen, könnten Apotheken vielen Patientinnen und Patienten bereits vor Ort weiterhelfen. Das würde Kapazitäten schaffen, um ein Primärarztsystem möglich zu machen.

Auch bei der Betreuung chronisch Kranker und im Medikationsmanagement könnten Apotheken viel Druck aus dem System nehmen – doch ihre Rolle wird in der Debatte komplett ignoriert. Warum? Weil es Angst vor Einnahmeverlusten gibt und weil politisch die Weichen falsch gestellt sind.

So verständlich diese Sorge auch ist, wir stehen vor einem überlasteten System, das in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft zu wachsender Frustration und Unzufriedenheit führt. Wir brauchen schnelle Lösungen. Natürlich müssen wir die unbesetzten Hausarztstellen besetzen, die Ausbildung stärken und Anreize für unterversorgte Regionen schaffen – das gilt übrigens auch für die Apotheken, unabhängig von der Primärarztdebatte.

Doch selbst wenn wir morgen mit einem Förderprogramm für den ärztlichen Nachwuchs starten, wird es Jahre dauern, bis wir ein engmaschiges Netz haben – und die Babyboomer-Generation geht nach wie vor bald in Rente. Wir brauchen daher koordinierte, interdisziplinäre Zusammenarbeit, um die Versorgung aufzufangen. Dabei sind auch die Apotheken gefragt – Expertise und Ressourcen, die wir haben aber nicht nutzen, das kann sich das deutsche Gesundheitssystem schlichtweg nicht leisten.

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